Zum Weltfrauentag stellen sich in dieser Reihe die Mitglieder des Deviance-Teams vor und erzählen, was sie antreibt. Diesmal: App- und Web-Entwicklerin Lea, die Respekt statt nur Akzeptanz fordert und Wut in Umsetzungsenergie verwandelt. Bevor du diesen Text liest, noch ein Tipp von Lea:
Nimm dir einen Tee, Kaffee oder was auch immer, starte das Album „Canaries in a Coal Mine“ von Bukahara über Spotify oder Apple Music und lehne dich zurück.
CN: Mord, Androhung von Gewalt
Die Meinung der Gesellschaft
Für die Gesellschaft bin ich in meiner Wahrnehmung eine erfolglose Langweilerin. Ein Schicksalsschlag führte dazu, dass ich lediglich Fachabitur machen konnte und meine anschließende Ausbildung abbrechen musste. Voller Stolz kann ich aber schreiben, dass mein Notendurchschnitt wirklich sehr gut war. Ein bisschen angeben darf jeder mal.
Mein erster Studiengang wurde von meiner Hochschule eingestellt, also wechselte ich in ein Fernstudium, welches ich mir jedoch nicht mehr leisten konnte, nachdem ich in der Corona-Krise 2020 meinen Job verlor. Und somit stehe ich trotz Bestnoten ohne Abschluss da. Im selben Jahr fasste ich daher den Entschluss, mich zur Web-Entwicklerin weiterzubilden.
Ihr Urteil
Unsere Gesellschaft definiert sich durch Leistung. Leistung im Beruf, aber auch im Liebes-/Sexleben. Und selbst da ist bei mir tote Hose. Denn ich bin demisexuell. Und das in einer Zeit, in der die Menschen für schnellen Sex nach rechts wischen und Frauen teilweise immer noch als Sexobjekte betrachtet werden. Als ich auf dem Dating-Markt unterwegs war, wurde mir Prüderie vorgeworfen und alle möglichen wirklich schlimmen Dinge. Zum Beispiel müsste man mich nur einmal richtig vergewaltigen, dann würde es mich schon aufbrechen. Ja, richtig gelesen.
Dass meine Sexualität keine Wahl ist, versteht keine:r.
Dazu wurde mir – immer mit diesem gewissen kritischen Unterton – gesagt, ich würde als „unabhängige Frau“ die Männer abschrecken. Das Erste, was mir bei diesen Worten durch den Kopf schießt, ist: „Wieso eigentlich Männer?“ Schließlich gibt es ein größeres Geschlechterspektrum und mehr sexuelle Neigungen als Heterosexualität. Nicht, dass die Kritiker:innen da falsch lägen, aber dies einfach so anzunehmen, halte ich für anmaßend und stereotypisch.
Die BDSM-Szene und ich
Umso mehr fielen die chronischen Kritiker:innen aus allen Wolken, als sie erfuhren, dass ich ein Praktikum bei einer Firma mache, die eine Kennenlern-App für die Fetisch-Community auf den Markt bringt. Und ich bin verdammt stolz darauf.
Denn auch wenn ich mich nicht als ein Teil dieser Community bezeichne, fühle ich mich durch meine vom Mainstream abweichende Sexualität der Szene verbunden. Außerdem bin ich quasi mit ihr aufgewachsen. Für mich sind BDSM und Fetische normal, da einfach viele Menschen im bunten Freundes- und Bekanntenkreis meiner Familie Teil genau dieser Community sind und waren. Bei „waren“ denke ich an eine Bekannte, die nicht mehr da ist, denn sie war ermordet worden.
Ich kannte sie, seit ich ein kleines Kind gewesen war. Nicht gut, aber dennoch. Sie war halt immer da gewesen. Bis sie nicht mehr da war. Sie wurde aus Habgier ermordet. Die Tat hatte nichts mit der BDSM-Szene zu tun, in der sie aktiv war, dennoch hatte der Richter das Urteil für die Täterinnen sehr niedrig angesetzt, da das Opfer sich, seiner Meinung nach, in einem gewalttätigen und gefährlichen Umfeld bewegt hatte.
Seit der Zeit an der katholischen Grundschule war mir klar, dass die BDSM- und Fetisch-Szene in der Gesellschaft eine Außenseiterrolle einnimmt. Dass aber die Diskriminierung und Verachtung dieser Menschen, so weit geht, dass Mörderinnen ein wirklich niedriges Urteil bekommen, weil das Opfer auf SM stand, macht mich immer noch wütend.
Mein Weg zu Deviance
Als ich die Stellenanzeige von Deviance sah, weckten die Erinnerungen an die Menschen aus der Szene – insbesondere die ermordete Bekannte – in mir den Wunsch etwas für diese Community zu tun.
Obwohl ich während meiner Weiterbildung viele Frauen getroffen habe, die Web-Entwicklung gelernt haben, sind Frauen beruflich immer noch selten in der IT-Berufswelt anzutreffen. Während meiner vielen Bewerbungen für Coding-Jobs seit Juni 2020 habe ich gemerkt, dass dies in meinem Fall nur zum Teil an meinem Quereinstieg in das Thema liegt, sondern auch daran, dass ich nicht männlich, kein „Bro“, bin.
Dazu kommt, dass mich die Gesellschaft aufgrund der Rückschläge in meinem Leben als erfolglos, wenn nicht sogar manchmal wertlos, ansieht. Ich sehe das anders. Ich sehe mich eher als eine Kämpferin mit einer gehörigen Portion Humor und Selbstironie. Ich bin auch dankbar für die Rück- und Schicksalsschläge, denn ich definiere mich nicht über sie, sondern über die Tatsache, niemals aufgegeben zu haben.
Ständig wird in Deutschland von Akzeptanz geredet. Doch in meinen Augen ist es nicht nur so, dass unsere Gesellschaft nicht fähig ist, die Menschen in ihrer wunderschönen Vielfältigkeit zu akzeptieren, sondern auch noch so, dass die bloße Akzeptanz einen Dreck wert ist.
Als Frau will ich nicht akzeptiert, sondern respektiert werden und jeder Mensch hat Respekt verdient.
Nun mache ich ein Praktikum bei einem Unternehmen, welches so gar nichts mit der konservativen Arbeitswelt zu tun hat, die ich bislang kannte, und mit seinem Produkt den angeblichen Außenseitern hilft. Ich sage mit Absicht „angeblich“, denn bei dem, was ich bis jetzt neu über das Thema gelernt habe, habe ich festgestellt, dass wir wohl alle ausnahmslos einen Fetisch haben, doch nur wenige haben den Mut, auch wirklich dazu zu stehen.
Mein Lebenslauf mag nicht der Masse entsprechen. Aber der wirklich individuelle Weg meines Lebens hat mich beruflich zu einem Themenbereich geführt, hinter dem ich voller Stolz stehen kann.
Wut ist gut
Findest du, mein Text klingt wütend? Natürlich ist er das, denn ich bin wütend. Bist du es denn nicht beim Anblick all der Ignoranz?
Die Wut wird von unserer Gesellschaft gefürchtet, weil viele, die Wut verspüren, sie nicht richtig zu nutzen wissen. Wut jedoch kann eine konstruktive Kraft sein. Sie ist die Kraft, die dich aufstehen lassen kann, wenn niemand mehr glaubt, dass es möglich ist. Sowohl wortwörtlich, als auch im übertragenem Sinn. Wenn wir etwas ändern möchten, ist der einzige Weg, diese Wut zu umarmen und in einem konstruktiven Handeln zu bündeln.
Denn Wut ist die Kraft, die meinen Willen speist, nicht aufzugeben. Nicht mich selbst, aber auch nicht die Menschen. Die Wut zaubert mir ein Lachen aufs Gesicht. Sie motiviert mich, für die Menschen und mich einzutreten. So auch für die BDSM-Community.
„Man kann sich selbst nicht helfen, wenn man nicht den anderen hilft.
Wir sind alle miteinander verbunden, und niemand kann nur sein eigenes Glück verwirklichen. Wenn wir Egoisten bleiben wollen, sollten wir wenigstens intelligente Egoisten sein: Helfen wir den anderen!“
„Ratschläge des Herzens“ vom Dalai Lama, 2003 erschienen im Diogenes Verlag
Letzte Worte
Das Leben ist nicht leicht. Gott sei dank. Es gibt uns die Möglichkeit, so viel zu erleben und zu fühlen. Es ist in Ordnung und großartig zu lachen, zu schreien, zu weinen. Die Welt in ihrer bunten Vielfalt zu respektieren, zu lieben und an ihr zu wachsen.
Während du nun das Album von Bukahara hörst, willst du nicht auch lachend deine Arme in die Luft reißen, während dir die Tränen übers Gesicht laufen und schreien „WE ARE STILL HERE“?